Vorstellungen
Filmkritik
Muss man tatsächlich erst in die Abgründe menschlicher Grausamkeit blicken, um das Positive, das Großartige und Kreative in sich selbst zu entfesseln? Regisseur Joachim Lang postuliert das am Anfang seines Films über einen der größten Ballett-Choreografen aller Zeiten, indem er in Rückblenden die schwierige Kindheit des Protagonisten John Cranko andeutet und ihn aus dem Off von den Schattenseiten des Lebens flüstern lässt. Seinen schwachen Vater hat Cranko geliebt, seine drakonische Mutter gefürchtet; die unsägliche Gewalt der Weißen gegen die Schwarzen in Südafrika, wo er 1927 mit privilegierter Hautfarbe geboren wurde, hat er nie verstanden.
Später, als er in Europa schon Karriere gemacht hatte, und von den Gräueln des Nazi-Terrors erfuhr, bei dem Juden und Homosexuelle wie Vieh tätowiert und vergast wurden, bekräftigt er das im Film vorangestellte Postulat, indem er sein letztes Stück „Spuren“ (1973) als Auflehnung gegen diese Gräuel konzipierte. Aus dem Schrecken Kunst zu machen, ist mutig, wird aber mitunter weit weniger geliebt, als die burleske „Pineapple Poll“ mit Gilbert-and-Sullivan-Musiken oder „The Lady and the Fool“ mit Verdi zu vertanzen, die ihm in den 1950er-Jahren in London Erfolg bescherten.
Die Tagträume eines Künstlers
„Cranko“ spart die frühen Stücke weitgehend aus und beginnt mit den Wachträumen des gepeinigten Künstlers, der London verlässt, weil man ihn dort wegen seiner Homosexualität anfeindet. Ausgerechnet in Stuttgart fand er nach einem als Gastspiel geplanten Ausflug dann eine neue Heimstatt. Hier, wo dem Kettenraucher auf der Probebühne die Zigarette verboten wurde, wo man ihm ein rechteckiges, mit dunkelbrauen Schrankwänden eingeengtes Büro zum Arbeiten gab und ihm die Wichtigkeit bürokratischer Regeln einbläute.
An seinem piefigen, aber erstaunlich freigeistigen Chef Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler), der als Generalintendant der Württembergischen Staatstheater den ein wenig verloren wirkenden, aber vor Tatendrang sprühenden John Cranko (Sam Riley) als Ballettdirektor nach Stuttgart holte, hat sich der Künstler Zeit seiner Karriere trefflich reiben können.
Und was für eine Karriere das war! Nie hätte man es für möglich gehalten, dass diese Stadt ein Ballett wie „Romeo und Julia“ bejubelt, das nicht akademisch, sondern mit Ecken und Kanten getanzt und zudem von einer Primaballerina wie im Rausch verkörpert wird. Die brasilianische Tänzerin Marcia Haydée (hier eindrücklich verkörpert von der Stuttgarter Kammertänzerin Elisa Badenes) wird zu Crankos Muse und zum Fels in der Brandung einer Karriere, die von vielen Männergeschichten, Einsamkeit, Erschöpfung und sprühender Kreativität sowie einem frühen Tod geprägt war, der weniger plötzlich als vielmehr zwangsläufig einfach so passierte.
Abenteuerliche Choreografien
Die Inszenierung gibt sich Mühe, diese von „Burnout“ ummauerte Energie Crankos in adäquate Bilder zu übersetzen. Im Oberen Schlossgarten werden vor der Fassade des Stuttgarter Staatstheaters die Wachträume Crankos durch Tanzeinlagen zum Leben erweckt. Auf der Netzhaut von Sam Riley spiegeln sich die abenteuerlichen Choreografien, und die von Philipp Sichler mit visueller Meisterschaft geführte Kamera entfesselt den Blick, indem sie den Tanzenden folgt, ohne dabei den Überblick zu verlieren.
Dennoch wirkt der Film immer wieder so, als habe der Regisseur zwischenzeitlich vergessen, die Handbremse zu lösen. Wenn wie in Rezitativen versucht wird, die Handlung voranzutreiben, wirkt der Film eigentümlich muffig und fernsehspielhaft aufsagend. Zwar ist es schlicht großartig, dass die tragenden Rollen mit dem Ensemble des Stuttgarter Staatsballetts besetzt sind. Denn das glänzt, wenn es um den eigentlichen Betrachtungsgegenstand – den Tanz – geht. Aber es wirkt eigentümlich verkrampft, wenn der Hauptdarsteller Sam Riley, der seinen Part selbst deutsch einspricht, seine Figur mit Leben, Leid und Leidenschaft füllt. Obwohl es eine gute Idee ist, den in Deutschland lebenden Briten mit englischem Akzent sprechen zu lassen, wie es auch Cranko tat, weiß man nie so genau, ob man peinlich berührt sein soll, dass hier ein Schauspieler radebrecht, oder ob dies Teil des inszenatorischen Konzeptes ist. In beiden Fällen wirkt die Rolle allerdings eher aufgesagt denn lebendig.
Was man in „Cranko“ sieht, ist sehr eindrücklich. Zwar kann man sich darüber streiten, ob die ablehnende Haltung des Publikum gegenüber den modernistisch-realistischen Inszenierungen historisch genau ist; die Buhrufe nach der Aufführung von „Spuren“ sind jedenfalls nicht verbürgt. Oder ob der Film hier nur die subjektive Sichtweise eines emotional angegriffenen Künstlers zeigt, der mit der zunehmend konservativen Stimmung in Deutschland während der frühen 1970er-Jahre nicht zurechtkommt.
Doch wenn getanzt wird, und das passiert in „Cranko“ oft (allerdings viel zu selten ohne Unterbrechung), dann ist der Film ganz beim Choreografen Cranko. Dann versteht man auch, was die Meisterschaft dieses Künstlers ausmacht. Und das dies nicht das Postulat vom Anfang des Films ist. Sondern vielmehr das Spielerische, das, was einen Menschen als individuellen, unverwechselbaren Künstler definiert.
Das Spielerische im Individuum
Kurz vor dem ersten Gastspiel der Kompagnie in der Metropolitan Opera in New York bläut der aufgebrachte Cranko seinen Tänzer:innen noch einmal das ein, was im Film immer wieder als das eigentliche Erfolgsrezept seiner Arbeit postuliert wird: dass man dem Publikum zeigen muss, dass nicht das Akkurate und die akademische Meisterschaft im Vordergrund stehen, sondern das Virtuose, das Unreine, das Persönlich-Emotionale. Das ist es, was die Brücke vom Künstler zum Publikum bildet, vom Bühnenbild bis hin zur Primaballerina.
Die Dämonen, die der Brückenbauer Cranko während seiner Arbeit dabei in sich trug, bleiben in „Cranko“ verborgen. Es wurde viel gemutmaßt, was zu seinem frühen Tod 1973 im Alter von 45 Jahren beigetragen hat. Die Antwort steckt in der Frage, wie lange ein Mensch wohl in der Lage ist, seine Dämonen so in sich zu verstecken, wie es John Cranko tat?