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Filmkritik
„Der Tod einer schönen Frau ist fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden“, heißt es mit einem Edgar-Allan-Poe-Zitat in „Der Buchspazierer“. Der Spielfilm von Ngo The Chau basiert auf dem gleichnamigen Roman von Carsten Sebastian Henn und ist gespickt mit Zitaten und Verweisen auf die (nicht nur) klassische Literatur. Jedes dritte Zitat, sagt die neunjährige Schascha (Yuna Bennett), stamme von Goethe.
Der Film handelt vom titelgebenden „Buchspazierer“, der bürgerlich Carl Kollhoff (Christoph Maria Herbst) heißt, und von Schascha, die mit ihrem Vater jüngst in das deutsche Städtchen gezogen ist, in dem Kollhoff als Buchspazierer täglich auf Tour geht. Schascha ist aufgeweckt und neugierig. Sie hat große braune Augen, die auch hinter Brillengläsern wunderschön staunen oder herzerwärmend traurig gucken können.
Ein Mann und die Bücher
Sie entdeckt den mit einem riesigen Rucksack durch die Stadt gehenden Buchspazierer beim Blick aus ihrem Kinderzimmer. Carl Kollhoff ist über 70 Jahre alt und der älteste Mitarbeiter der Buchhandlung am Stadttor. Er kennt jedes Buch im Geschäft und hat sämtliche nach ihm eingestellten Mitarbeitenden eingeführt. Den Stammkunden hat er die Namen von Buchfiguren wie Effi Briest, Mister Darcy, Pippi Langstrumpf, Herkules und Captain Ahab zugedacht. Er weiß nicht nur, was sie lesen, sondern liefert ihnen ihre Lektüre auch frei Haus.
Kollhoffs Kontakt zu den Kunden ist allerdings strikt beschränkt. Er betritt keine fremden Wohnungen und stellt keine persönlichen Fragen. Seinerseits lebt er mutterseelenallein in einer bis unter die Decke mit prall gefüllten Bücherregalen zugestellten Wohnung.
Sein Umgang mit Büchern ist der eines Liebhabers. Bevor er ein Buch anfasst, bläst er in seine Finger. Bevor er ein Buch öffnet, streicht er sanft über dessen Umschlag. Wenn er ein Buch reinigt, tut er es mit sanften Pinselstrichen. Und wenn er Bücher zum Austragen fertig macht, schlägt er sie zunächst fein säuberlich in Papier ein und verstaut sie danach sorgfältig in seinen Rucksack: Es hat dies alles etwas von einem meditativen Ritual an sich, was Christoph Maria Herbst im Film mit großer Feinfühligkeit zelebriert.
Die Liebe zum Lesen
Die Liebe zu Büchern und die Leseleidenschaft sind das eine große Thema des Films. Nachdem Schascha Kollhoff in der Buchhandlung beim Büchereinpacken heimlich beobachtet hat, stürmt sie nach Hause und erzählt jubelnd, dass der Buchspazierer Bücher genauso behandelt wie ihre Mutter. Das Foto der Verstorbenen steht mit Girlanden und Lichterketten verziert auf einer alten Kommode. Ob er manchmal auch mit der Mama rede, will Schascha von ihrem Vater (Ronald Zehrfeld) wissen. Der aber weicht der Frage aus.
Im Kern handelt „Der Buchspazierer“ von Männern, die von ihren Frauen zurückgelassen wurden, und von einem ebenso im Stich gelassenen Mädchen, das allerdings den Blick für die Schönheit der Erde und die Neugier aufs Leben nicht verloren hat. Und so zeigt Ngo The Chau, der nicht nur Regie, sondern auch die Kamera führt, wie Schascha sich Kollhoff an die Fersen heftet und von diesem zurückgewiesen wird.
Schascha aber lässt sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen. Wenn Kollhoff sagt, er gehe für gewöhnlich alleine auf die Tour, antwortet sie ihm, dann gehe sie eben alleine neben ihm her. Und wenn er erklärt, dass man Kunden nichts fragen und fremde Wohnungen nicht betreten dürfe, kontert sie, dass man fremde Wohnungen sehr wohl betreten dürfe, wenn man vorher gefragt hat. So viel Chuzpe erobert irgendwann selbst das Herz des kauzigen Kollhoff.
Ein „Orange Book Entertainment Shop“
Doch es gibt in „Der Buchspazierer“ noch einen zweiten Erzählstrang. Dieser handelt von Gentrifizierung, dem sozialen Wandel eines deutschen Städtchens und dessen Bevölkerung. Die Veränderung wird am Beispiel der „Buchhandlung am Stadttor“ abgehandelt, die sich unter dem Regime einer neuen Chefin binnen weniger Wochen von einem gemütlich mit Büchern vollgestopften Laden in die gähnende Leere eines „Orange Book Entertainment Shop“ verwandelt. Kollhoff wird im Rahmen dieser Modernisierung prompt vor die Tür gestellt. Das lässt ihn und seine Beziehung zu Schascha in eine tiefe Krise stürzen, die sich aber wandelt, als sich Schaschas Vater einschaltet.
„Der Buchspazierer“ wurde in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und der idyllischen Altstadt von Velbert-Langenberg gedreht. Da im Film kaum Fahrzeuge oder moderne Gerätschaften vorkommen, haftet ihm eine angenehme Zeitlosigkeit an. Christoph Maria Herbst und Yuna Bennett überzeugen und harmonieren im Zusammenspiel mit Ronald Zehrfeld; in weiteren Rollen sind Edin Hasanovic, Maren Kroymann, Tristan Seith und Hanna Hilsdorf besetzt.
„Der Buchspazierer“ ist mit gutem Auge für Menschen, Räume und Landschaften inszeniert und fotografiert. Die einzelnen Szenen sind in sich stimmig, einige vermögen auch zu berühren. Obwohl der Film ernste Themen wie Trauerarbeit, Vereinsamung und die rasante Veränderung der Gesellschaft aufgreift, verströmt er eine heitere Stimmung. Das irritiert etwas und wirkt bei längerem Nachdenken auch störend. Denn so wie die Titelfigur aus Johanna Spyris Roman „Heidi“, auf die im Film mehrfach verwiesen wird, ist Schascha kein glückliches Kind, sondern ein Kind mit großem Einfühlungsvermögen, das seine Mitmenschen erfreut, innerlich aber traurig ist.
Mehr Mut zu Frauen
Für eine nur ansatzweise vertiefende Auseinandersetzung mit Schascha und ihrer Trauer ist hier aber ebenso wenig Platz wie für diejenige der sie umgebenden Personen, die in ihren Leben allesamt irgendwie festgefahren sind.
Mehr Raum nimmt das ein, was den Film latent prägt: die mehrfach geäußerte Warnung, sich als Mädchen auf die Freundschaft mit einem älteren Mann einzulassen. Mama hätte das erlaubt, entgegnet Schascha, als Kollhoff sie darauf anspricht. Vielleicht hätte es dem in allen Schlüsselpositionen rein von Männern besetzten Film gutgetan, wenn in der Geschichte über die Beziehung eines neunjährigen Mädchens zu Männern auch eine Frau mitgeredet hätte.