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Filmkritik
Als das Huhn stirbt, öffnen sich die Schleusen. Lutz ist den beiden Menschen gerade erst zugelaufen. Das Tier lag verletzt auf der Straße; Paula hatte ihm das Bein verbunden. Jetzt aber hat das Fenster des Wohnmobils nicht ganz geschlossen – was Lutz prompt ausgenutzt hat und rausgeschlüpft ist, gleich vors nächste Auto.
Im Hühnerschicksal kommt alles zusammen: der Tod, die Trauer, Schuldgefühle und Vorwürfe, von anderen und an sich selbst. Die Frage der Verantwortung, und was das eigentlich im Leben bedeutet.
Slapstickhaft komisch
Es ist doch nur ein Huhn? Lutz ist ein lebendiges Pars-pro-toto, ein in kürzester Zeit heißgeliebtes Tier, ein Ausdruck von Gefühl und Liebe. Mit seinem Tod kommt all das heraus, was in Paula (Luna Wedler) und Helmut (Edgar Selge) vor sich hin brodelte, seit die beiden beim gemeinsamen Grabschänden zueinander gefunden haben. Das ist erklärungsbedürftig, aber in dem Moment vor allem slapstickhaft komisch. Denn man muss sich erstmal trauen, einen Film wie „Marianengraben“ mit einer Kletteraktion über die Friedhofsmauer zu beginnen, bei der Helmuts große Liebe Helga in ihrer frisch ausgegrabenen Urne als Geisel dient.
Mit Helga, Hund Judy und zeitweise auch dem Huhn Lutz fahren die beiden sehr ungleichen Figuren in Helmuts knarzendem Wohnmobil Richtung Süden. Paula will nach Triest, wo ihr kleiner Bruder Tim im Meer ertrunken ist, Helmut will Helga nach Südtirol bringen, wo sie gelebt und sich geliebt haben. Dabei wird gestritten, geschimpft, geweint und erzählt.
Die Regisseurin Eileen Byrne greift in ihrem Debütfilm „Marianengraben“ die Geschichte des gleichnamigen Romans von Jasmin Schreiber auf, mit einem Hauch mehr Sentimentalität als in der Vorlage und einer minimal überhöhten Dosis an Streichinstrumenten.
Unterwegs in den Süden
Das ist das Handwerkszeug des Kinos. Viel wichtiger aber ist der Rahmen: ein Road Movie mit einem alten Hymer-Mobil auf alpinen Serpentinen. Darin sind Helmut und Paula innerlich in ganz verschiedenen Richtungen unterwegs: Helmut zurück zu glücklicheren Tagen und einem Abschluss, Paula zum Ort der Tragödie und einem Neuanfang.
Wedler und Selge sind ein wunderbares Gespann. Anfangs agieren beide zurückgenommen und verschlossen: „Na, wollen wir’s mal nicht übertreiben,“ reagiert Helmut auf zu viel Nähe. Doch in Paula tobt nicht nur die Jugend, sondern toben auch widerstreitende Gefühle. Und die brechen sich Bahn.
Ihre Trauer ist frisch und dicht unter der Oberfläche, sie zeigt sich in Tränen und Narben. Helmuts Schmerz, nicht nur um Helga, ist schon tiefer ins Leben eingegraben, in Falten, Blick und Körperhaltung. Edgar Selge hat die verhaltenere Rolle, entfaltet aber auch Wut, Witz und Schelmengeist genug, um die Asche seiner Liebsten aus dem Grab zu stehlen und durch Europa zu kutschieren.
Leere Gräben und Friedhöfe
Es geht noch mehr um leere Gräber, sogar leere Friedhöfe – wie können wir den Verstorbenen nahe sein? Die Reise muss ja nicht immer dahin führen, wohin man eigentlich wollte. „Ich bin nicht in Triest“, lässt Tim (William Vonnemann), mit dem sich Paula in ihren Tagträumen unterhält, seine große Schwester wissen.
Aber wo dann? Die Gefühle loszuwerden, ist jedenfalls keine Option, auch wenn die Erinnerungen zu groß sind. Dass der Tod ein Teil des Lebens ist, durch diese Erkenntnis aber nicht weniger schmerzhaft wird, ist nur eine der Erfahrungen, durch die der Film die Hauptfigur begleitet. Brutal komisch und herzzerreißend ehrlich. Oder war es andersherum?