Cast
Vorstellungen
Filmkritik
Künstler werden oft als Vampire bezeichnet, da sie das Schicksal von Menschen für ihre kreativen Zwecke be- oder gar ausnutzen. Doch um jemanden im übertragenen Sinne aussaugen zu können, braucht es auch eine Person, die das mit sich machen lässt. Überzeichnet man die Vorlage, kommt schnell der Vorwurf des psychischen Missbrauchs auf. Nähert man sich ihr zu respektvoll, gilt man als befangen.
In „May December“ von Todd Haynes entwickelt sich aus dieser Ausgangssituation ein Psychodrama zwischen zwei ungleichen Kontrahentinnen. Die Fernsehdarstellerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) soll eine Frau spielen, die vor 20 Jahren in Savannah, Georgia, für einen Skandal sorgte. Die damals 36-jährige Gracie (Julianne Moore) unterhielt eine sexuelle Beziehung mit dem erst 13-jährigen Joe und wanderte dafür in den Knast, wo sie eine gemeinsame Tochter zur Welt brachte. Nach Verbüßen ihrer Strafe heiratete Gracie den mittlerweile dem Jugendalter entwachsenen Joe (Charles Melton), und die beiden wurden Eltern weiterer Kinder – des Zwillingspaars Charlie und Mary.
Der Elefant im Raum
18 Jahre später taucht die Schauspielerin Elizabeth bei der ungewöhnlichen Familie auf, als gerade eine Party im Gange ist. Der bevorstehende High-School-Abschluss der Zwillinge soll vorgefeiert werden, auch um Elizabeth die Möglichkeit zu geben, sich mit den Familienmitgliedern vertraut zu machen. Die erste Begegnung wird allerdings durch ein Paket getrübt, das einen Haufen Kot enthält; ein ebenso bigottes wie brutales Zeichen dafür, dass nicht alle Einwohner von Savannah den Lebenswandel der Familie gutheißen.
Gracies Skandalgeschichte rollt der Film jedoch erst allmählich auf; Elizabeth hat den Zuschauern gegenüber lange einen Wissensvorsprung. Anfangs nähert sie sich der älteren Grace sehr höflich und versucht, sich in die Familienkonstellation einzufühlen. Dass der 36-jährige Joe mehr als großer Bruder denn als Vater der Zwillinge wirkt, bleibt dabei nicht verborgen. Alle geben sich aber Mühe, den „Elefanten im Raum“ zu ignorieren. Gracie gelingt es besonders gut, Peinlichkeiten zu überspielen; sie weiß auch die Brisanz des Kennenlernens mit ihrem jetzigen Ehemann kleinzureden und scheint sich keinerlei Schuld bewusst zu sein.
Dann aber geht Elizabeth wie eine Detektivin vor. Bei ihrer tagelangen Recherche interviewt sie auch Gracies ersten Ehemann und den Sohn aus erster Ehe; außerdem versucht sie, mit Mary eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Doch spätestens, als sie Joe in Momenten der Zweisamkeit unverhohlen Avancen macht, beginnt man die Absichten der Schauspielerin zu hinterfragen. Geht es ihr wirklich nur um die Wahrheit und die Vorbereitung der Rolle? Oder entpuppt sie sich nicht zunehmend als Unruhestifterin?
Auch die Inszenierung übt sich in Vieldeutigkeit, obwohl der Titel des Films eine klare Konstellation offenbart. Im US-Amerikanischen bezeichnet der Begriff „May December“ die Beziehung eines Paars mit einem deutlichen Altersunterschied. Während die reifere Gracie für den angehenden Lebensabend steht, hat ihr Ehemann Joe als in der Blüte des Lebens wandelnder „Mai“ noch viel seiner Zukunft vor sich. Wie gestalten sich bei einer so ungleichen Konstellation die Machtverhältnisse?
Backen, gärtnern, schminken
Auch zwischen Elizabeth und Gracie kommt es zu Machtspielchen. In dem Subplot um die beiden Frauen, die sich anziehen und abstoßen, übernimmt Elizabeth eindeutig den aktiveren Part. Dennoch übt Elizabeth zusammen mit Gracie für die Rolle – sie backt, gärtnert und schminkt sich auf Gracies Weise und verschmilzt so zuweilen mit ihrem Vorbild. Doch wer ist die Stärkere der beiden?
Während Natalie Portman anfangs die narzisstische Schauspielerin gibt, die sich überlegen wähnt, sieht sich ihre Figur irgendwann herben (Selbst-)Zweifeln ausgesetzt. Und auch Gracie ist vielleicht nicht so naiv, wie sie tut. Julianne Moore spielt sie zunächst als lispelnde Unschuld vom Lande, stattet sie jedoch allmählich mit einem doppelten Boden aus, der sowohl Verletzlichkeit als auch eine passiv-aggressive Dominanz offenbart. Immer stärker fragt man sich, wer hier eigentlich wen hinters Licht führt und warum?
„May December“ baut auf diese Weise eine beträchtliche Spannung auf. Ständig wartet man auf verborgene Geheimnisse oder eine entscheidende Wendung. Die tritt aber selbst dann nicht ein, als Gracie und Elizabeth am Ende ein recht ambivalentes Abschiedsgespräch führen. Das mag nach der Hitchcock-ähnlichen Inszenierung des Films enttäuschen, bleibt aber dem Credo des Regisseurs treu. Denn Todd Haynes geht es in seinen Filmen stets mehr um Zwischentöne als um Eindeutiges.
Zur echten oder vorgetäuschten Spannung des Films trägt auch das musikalische Thema bei, das gleich zu Beginn ertönt und im Laufe des Films immer wieder effektiv eingesetzt wird. Die wenigen Klavierakkorde, die Michel Legrand für den Thriller „Der Mittler“ (1971) von Joseph Losey komponiert und die Marcelo Zarvos für „May December“ neu adaptiert und aufgenommen hat, reichen, um die Aufmerksamkeit beständig hochzuhalten. Auch säen sie symbolisch Zwietracht zwischen den Figuren.
In die Freiheit entlassen
Wo in den meisterlichen Todd-Haynes-Filmen „Dem Himmel so fern“ und „Carol“, die beide in den moralisch repressiven 1950er-Jahren spielen, die Liebe der Protagonisten bitter erstritten werden musste oder gar unmöglich war, erweist sich die Fallhöhe der ambivalenten Paarbeziehung in „May December“ als eindeutig niedriger. Zwar geht es auch hier um den Schein einer intakten Familie, die allerdings trotz der anfangs geschilderten Anfeindungen durchaus existieren kann. Brisant sind eher die sich anbahnenden Risse innerhalb des Familiensystems. Zum einen werden sie durch Elizabeths Aktionen vertieft, die als eine Art Katalysator fungieren. Zum anderen aber wird der bevorstehende Auszug der Zwillinge das Gefüge stark verändern. Denn dann entfällt ein wichtiger Grund für das Zusammensein von Joe und Gracie.
Im letzten Drittel des Films mausert sich Joe immer mehr zum heimlichen Helden des Films. Seinen Befindlichkeiten wird wachsend mehr Raum gegeben. In mehrfacher Hinsicht wirkt er zudem fast wie ein Sohn Gracies, nicht wie ein gleichberechtigter Partner. Durch die Ehe wurde er einer normalen Teenagerentwicklung beraubt. So ist Joe zum ersten Mal bekifft, zusammen mit seinem Sohn Charlie, der ihn dazu anstiftet. Die Eheleute befinden sich in einer gegenseitigen seelischen und amourösen Abhängigkeit. Doch während Gracies Attraktivität in den Augen vieler langsam nachlässt, nimmt die von Joe zu. Er fasst die Möglichkeit, Grace zu verlassen, durchaus ins Auge. Sinnbildlich für Joes Bestrebungen ist sein Biotop, in dem er Schmetterlinge züchtet. Aus einer der Puppen schlüpft irgendwann ein Schmetterling, den er auf der Veranda seines Hauses in die Freiheit flattern lässt.