Vorstellungen
Filmkritik
Nicht Agatha Christie, das Leben schreibt die originellsten Krimis. Und die unwahrscheinlichsten dazu. Welcher Autor würde auf die Idee kommen, auf einem Parkplatz des Sozialamtes im mittelenglischen Leicester nach den Überresten von Richard III. zu suchen und sie auch noch zu finden? Jener König, den die Geschichtsschreibung für verdammt und verschollen erklärt hatte, seitdem Shakespeare, gut 100 Jahre nach dessen Tod 1485, eine seiner berühmten Tragödien verfasst und das Bild vom buckligen Tyrannen zementiert hatte. Doch Tatsache ist, dass eine Ausgrabung an besagter Stelle in der Innenstadt von Leicester im Sommer 2012 ein Skelett zutage förderte, das sich über Genanalysen zweifelfrei als die Gebeine des seit seinem Tod verschollenen englischen Königs herausstellte. Maßgeblich daran beteiligt waren die Universität von Leicester sowie eine gewisse Philippa Langley, geschiedene Mutter von zwei Kindern und Mitglied der als „Fantruppe“ verschrienen „Richard III“-Gesellschaft. Wer nun welche Verdienste in welcher Reihenfolge zu diesem sensationellen Fund beitragen konnte, ist seither Streitthema.
Erstaunlich ist es in jedem Fall, dass erst gut zehn Jahre ins Land ziehen mussten, bis sich ein namhafter Regisseur daranmachte, um diesen Streitfall schauträchtig umzusetzen. Zum Glück ist es Stephen Frears gewesen, der seit jeher ein Faible für Underdogs und unterhaltsame Geschichten hat. Und so ist aus den Ereignissen um den verlorenen und gefundenen König ein perfekter Unterhaltungsfilm fürs Kino geworden.
Eine fesselnde Geschichte
Krimi oder Drama? Investigativ-Story oder Geschichtsstunde? Bereits die ersten Takte der Tonspur sowie die Titel-Sequenz sprechen eine eindeutige Sprache. Filmkomponist Alexandre Desplat gibt den Spannungstreiber in der Tradition von Bernard Herrmann und Vorspann-Designer Matthew Lawrence wandelt in den Spuren des großen Vorbilds Saul Bass. Stephen Frears orientiert sich am Suggestivkino von Alfred Hitchcock, er will (zunächst) keine Geschichtsstunde und kein Sozialdrama, sondern eine fesselnde Geschichte präsentieren. Und zwar „ihre“ Geschichte, wie die Einblendung als Zusatz zur „wahren Geschichte“ gleich nach dem Vorspann erklärt. Der Regisseur wird in den nächsten 100 Minuten also hemmungslos parteiisch sein. Von daher wird der Krimi um das Finden menschlicher Überreste und einer späten Rehabilitation nicht nur spannend, sondern auch höchst emotional.
Zunächst lernt man Philippa Langley kennen. Sie lebt von ihrem Mann getrennt, wohnt aber doch aus Freundschaft irgendwie weiter mit ihm zusammen. Im eigenen kleinen Haus zieht sie zwei halbwüchsige Jungs groß und hat eine Arbeit, die sie mag, obwohl sie regelmäßig übergangen wird. Hobbymäßig interessiert sie sich für Geschichte und ist nach einer Theateraufführung von Shakespeares „Richard III.“ völlig beeindruckt und zugleich empört. Die Darstellung des als Thronschleicher und Kindermörder verunglimpften, buckeligen Unholds erscheint ihr einseitig negativ. Wieso sollte man denen glauben, die nach dem historischen König kamen und die ihn hassten? Warum bricht man den Stab über einen Menschen aufgrund des Werks eines Dramatikers und der Verunglimpfungen der Tudors, jenes Herrschergeschlechts, das nach dem Sieg über Richard III. bei der Schlacht bei Hastings den Thron usurpierte? Einwenden ließe sich hier gegen die Haltung des Films: Wieso sollte man Philippa Langley glauben, die das Gegenteil behauptet – aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit heraus?
Sie kennt das Gefühl, verunglimpft zu werden
Doch der Film ist ganz bei seiner Hauptfigur. Vielleicht ergreift Philippa Langley Partei, weil sie das Gefühl kennt, verunglimpft zu werden. Sie ist zierlich, eher schüchtern, kleidet sich eher unscheinbar, ist mitunter kränklich und leidet seit einiger Zeit an dem gerne als Modekrankheit gedeuteten „Fatigue-Syndrom“. Erkennt sie im Schicksal von Richard III. wohlmöglich ihr eigenes? Frears und seine Drehbuchautoren Steve Coogan und Jeff Pope wollen aber nicht auf eine dieser aktuell so angesagten Geschichten von einer Frau hinaus, die von der Männerwelt nicht ernst genommen wird, aber dennoch ihren Weg geht. Den Menschen zu würdigen, unabhängig vom äußerlichen Anschein und gesellschaftlichen Vorurteilen, das ist die universale Botschaft des Sozialdramas, das „The Lost King“ neben dem Krimi dann eben doch auch ist. Diese Erkenntnis eint Richard und Philippa (im Geiste) und lässt sie zu einem unschlagbaren Team über die Jahrhunderte werden.
Mit dieser Erkenntnis funktioniert auch der ganze Rest der „wahren Geschichte“, die auf realen Ereignissen und Figuren fußt, mit einer realistischen Aufarbeitung aber ungefähr so viel gemein hat wie „Psycho“. Wie könnte ssonst der Geist eines Toten in Aktion treten? Philippa Langley ist erschöpft und manchmal nicht unbedingt Herrin ihrer Sinne, was sich der Film zu eigen macht, um der Hauptfigur „ihren“ Richard an die Seite zu stellen. Seit der Theateraufführung erscheint ihr immer wieder der König (in Gestalt des Bühnenschauspielers), zuerst als stummer Mahner, dann sogar als hilfreicher Ratgeber und auch ein wenig als Psychotherapeut. Zusammen kämpfen sie um ihrer beider Reputation. Ihr Mann, ihre Kinder, die Wissenschaft, die Politik und die potenziellen Geldgeber erfahren immer nur von dem „Gefühl“, das die Hobbyhistorikerin glauben lässt, dass die verschollenen Gebeine nicht vom Fluss Soar in die Nordsee getrieben worden sind, sondern inmitten von Leicester verscharrt liegen müssen. Und die Geschichte wird zeigen, dass dieses Gefühl nicht trügt.
Das „Wie“ macht den Film mitreißend
Der bekannte Ausgang schadet der Spannung des Films nicht. Denn es ist das „Wie“, das „The Lost King“ so mitreißend macht, vermittelt von einem trocken-amüsanten Dialogbuch und einer jener von Hollywood so gerne adaptierten „Heldenreisen“. Stephen Frears weiß, wie man Geschichten baut. Seit „Gefährliche Liebschaften“ (1988), spätestens aber seit „Die Queen“ (2006) weiß auch das Publikum, dass er Sprödes eingängig zu erzählen weiß. Und schon seit „Mein wunderbarer Waschsalon“ (1985) weiß man um seine Vorliebe für Underdogs aller Couleur. Und so geht man mit der mal wieder fantastischen, weil so dezenten Sally Hawkins als Philippa Langley auf die (Helden-)Reise und sieht sie unterstützt von großartigen Mitspielern wie Steve Coogan (als Ex-Mann John Langley), Benjamin Scanlan und Adam Robb (als Philippas Söhne Raife und Max) sowie Mark Addy (als Universitätsdoktor) und Harry Lloyd (als geisterhafter Kumpan Richard III.).
Sie alle sind vereint im Kampf um Gerechtigkeit, ein paar Knochen und das Recht auf ein diffuses Gefühl. Wie der Kampf gefochten und die Reise enden wird, wer sich als Gegenspieler entpuppt und wer am Ende mit gesenktem Haupte dasteht, ist nicht so absehbar, wie es scheint. Auf die Auflösung in einer grandiosen finalen Parallelmontage darf man sich freuen. Auf alles andere auch!