Vorstellungen
Filmkritik
Zu Beginn des Films sitzt die ganze Familie gemeinsam am Tisch, Eltern, Großeltern, Kinder, Enkel, Onkel, Tanten, der Schwiegersohn, drei Brüder. Einer davon, Piero (Paolo Pierobon), feiert seinen 55. Geburtstag. Alle scherzen, essen, trinken, singen, so wie man es sich bei einer italienischen Familie vorstellt. Dann aber klingelt das Telefon. Feriengäste melden eine defekte Waschmaschine.
Alvise (Andrea Pennacchi), der jüngste der drei Brüder, verdient sein Geld damit, dass er Häuser und Wohnungen in Venedig an Touristen vermietet. Die beiden anderen, Toni (Roberto Citran) und Piero, arbeiten wie einst ihr Vater als Krabbenfischer. Alvise, stets vornehm gekleidet, meist mit einem Schal um den Hals, den Oberlippenbart sorgsam gestutzt, eilt ans Telefon; seine Tochter kommt zur Hilfe, da die Gäste nur Englisch sprechen. Der zottelbärtige Piero verdreht die Augen.
Im langen, tiefen Kanal
Nur noch einmal werden danach alle wieder zusammenkommen: zu Tonis Beerdigung, der nach der Rückkehr vom Krabbenfischen in den Salzmarschen der Lagune von Venedig vom Blitz erschlagen wurde. Alvise erinnert sich beim gemeinsamen Essen nach dem Begräbnis, wie sein Vater ihm als Kind das Schwimmen beibringen wollte, indem er mit ihm im Boot nach Fusina fuhr, in den „langen, tiefen Kanal“, und ihn einfach über Bord warf. So hatten vor ihm schon Toni und Piero Schwimmen gelernt, aber bei Alvise funktionierte das nicht. Er wäre wohl ertrunken, wenn Toni ihn nicht gerettet hätte. Eine Geschichte, die versinnbildlicht, dass Alvise und Piero unterschiedlicher kaum sein könnten.
Während Piero noch immer im Elternhaus auf der venezianischen Insel Giudecca wohnt und als Krabbenfischer arbeitet, setzt Alvise trotz der erst langsam wieder abflauenden Corona-Pandemie auf den Tourismus. Er möchte Tonis Witwe und Piero ihre Anteile am Haus abkaufen, um es zu renovieren und anschließend teuer an Feriengäste zu vermieten. Tonis Frau (Ottavia Piccolo) lässt sich angesichts ihrer finanziellen Nöte und ihres in Rom studierenden Sohnes schnell von diesem Plan überzeugen; Piero aber weigert sich hartnäckig. Als Alvise hinter seinem Rücken dennoch den Kauf vorantreibt, spitzt sich der Konflikt zwischen den ungleichen Brüdern bedenklich zu.
Eine fast menschenleere Stadt
Der italienische Dokumentarfilmer Andrea Segre, der in Dolo, einem kleinen Städtchen unweit von Venedig, geboren wurde und dessen Vater aus der Lagunenstadt stammt, hatte 2011 mit „Venezianische Freundschaft“ sein Spielfilmdebüt gegeben. Ende Februar 2020 kehrte er dann nach Venedig zurück, um eine Dokumentation über die unsichere Zukunft der Stadt im Zeichen eines überbordenden Tourismus und des immer bedrohlicheren Hochwassers zu drehen. Die Corona-Pandemie veränderte jedoch das Gesicht Venedigs schlagartig und versetzte die Gassen, Plätze und Kanäle in eine Stimmung wie aus einer lang vergessenen Zeit. So entstand der Dokumentarfilm „Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt“; eine Spurensuche, die den Filmemacher auch in die Vergangenheit seines Vaters führte.
Im selben Jahr drehte Segre mit „Welcome Venice“ auch einen Spielfilm, der in Venedig während der Pandemie spielt. Deutlich wird das weniger an den medizinischen Masken, die sich die Figuren immer mal wieder überstreifen, als an den fehlenden Menschenmassen und der Leere zwischen den Häusern. Während Alvise mit seiner Tochter (Sara Lazzaro) durch die Stadt schlendert, bleibt er plötzlich auf einer Brücke stehen und blickt auf einen der vielen kleinen Kanäle, die so ungewöhnlich ruhig sind: keine singenden Gondolieri, keine fotografierenden Touristen. „Früher konnte man hier nicht stehen“, stellt die Tochter fest, „man wurde umgerannt.“ „Stimmt“, fügt ihr Vater beinahe andächtig hinzu, „ich stand hier noch nie.“ Dann drehen sich beide langsam um, ein Kameraschwenk folgt ihren Blicken über das Meer hinweg auf den Markusplatz.
Nette cineastische Spielerei
„Welcome Venice“ zeigt ein Venedig, wie man es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr erleben konnte und wie man es vielleicht nie wieder sehen wird: eine ruhige, würdige, gelassene Stadt im Meer. Die vom Virus leergefegte Lagunenstadt hätte also die heimliche Hauptrolle in dem Familiendrama spielen können. Bis auf einige wenige lyrische Momente aber, etwa wenn Piero mit seinem Enkelsohn in einem abgelegenen Kanal dem Echo seiner Rufe lauscht und ihm von fern eine Frauenstimme antwortet, verblasst dieses einzigartige Szenario zu einer austauschbaren Donna-Leon-Kulisse.
Die bunten Hausfassaden, die malerischen Gassen, die Treppen und Brücken verlieren im Hintergrund von Totalen, Halbtotalen oder Großaufnahmen ihre poetische Kraft. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die ausdrucksstarken Darsteller und die oft belanglosen Dialoge. Piero referiert gerne die Handlung historischer Filme, die er gesehen hat, und irgendwie scheint das, was der „Gladiator“ und andere Kinoheroen erleben, stets auch seine Situation zu beschreiben. Eine nette cineastische Spielerei. Am Ende aber dürften es vor allem Venedig-Fans sein, die an „Welcome Venice“ nicht vorbeikommen. Als Familiendrama hat der Brüderstreit dem jahrhundertelangen und doch unvermindert aktuellen Konflikt zwischen Tradition und Moderne, alterndem Handwerk und schnellem Kommerz nur wenig hinzuzufügen.