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Filmkritik
Die 25-jährige Marie-Line (Louane Emera) lebt in Le Havre und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Die Halbwaise wohnt mit ihrem passiv-aggressiven Vater zusammen, der nach einem Unfall ein Bein verloren hat. Als Kellnerin in einer Hafenbar hat es die junge Frau öfters mit dem Stammkunden Gilles (Michel Blanc) zu tun. Der brummige Richter trinkt meist einen Whisky zu viel. In ihrem Job wird Marie-Line aber auch von dem Studenten Alex (Victor Belmondo) angeflirtet und beginnt eine Beziehung mit ihm. Doch die beiden kommen aus unterschiedlichen Milieus, was nicht lange gutgeht. Alex aber traut sich nicht, mit ihr Schluss zu machen. Als sie ihn eines Abends auf einem Parkplatz zur Rede stellen will, schubst sie ihn so unglücklich, dass er ein Schädeltrauma erleidet. Marie-Line wird verhaftet und dem Richter vorgeführt. Bei dem handelt es sich um Gilles, der sie zu einer Geldstrafe und Bewährung verurteilt.
Chansons oder Hip-Hop
Doch da ist Marie-Line ihren Job schon los; sie hatte Gilles’ Drink verschüttet und sich nicht angemessen entschuldigt. Deshalb meldet sich jetzt so etwas wie ein schlechtes Gewissen bei Gilles. Er engagiert die junge Frau als Fahrerin, da er seinen Führerschein verloren hat. Marie-Line ist direkt, zuweilen taktlos; sie hat kein feines Benehmen, kaum Bildung, verfügt aber über einen gesunden Menschenverstand und ein sonniges Gemüt. Gilles dagegen hält den Belastungen seines Richterjobs nur mit Antidepressiva und Alkohol stand. Zunächst streiten die beiden ständig: Gilles ist genervt von Marie-Lines angeblichem Mangel an Ehrgeiz; Marie-Line findet den älteren Griesgram bisweilen schwer erträglich. Doch mit der Zeit merken beide, dass sie sich gegenseitig einiges vom anderen abschauen können.
Die Figurenkonstellation alt-jung, gebildet-ungebildet oder bürgerlich-proletarisch ist schon in vielen Filmen durchdekliniert worden. Die Gesellschaftsstudie von Jean-Pierre Améris bringt viele diese Gegensätze zusammen; die beiden Protagonisten könnten kaum unterschiedlicher sein. Gilles hört gerne klassische Musik oder Chansons von Julien Clerc, dessen Lieder den sonst so kühlen Mann zu Tränen rühren. Marie-Line hat rosa Strähnen in den Haaren, ist stark geschminkt, trägt gerne kurze Röcke, Springerstiefel und eine graue Bomberjacke; sie ist tätowiert und liebt Hip-Hop.
Doch auch wenn Marie-Line ihrem Ex-Freund noch immer nachtrauert, kennt sie sich grundsätzlich mit Liebe und Romantik aus. Sie ist hilfsbereit und bodenständig, wovon Gilles auf unverhoffte Weise profitiert. Was Marie-Line hingegen nicht kennt, ist Etikette. So erwischt man sich immer wieder beim Fremdschämen, wenn sie Gilles im Gerichtssaal zuwinkt oder sich in eine Synagoge verirrt, sich bekreuzigt und in den Männerbereich vordringt. Gilles dagegen ist ein Snob; er belehrt sie von oben herab, ist dickköpfig und dauerdepressiv.
Wie man über sich hinauswächst
Doch beide haben Schicksalsschläge hinter sich und können deshalb, je mehr sie übereinander erfahren, immer besser mit der anderen Person mitfühlen. Gespräche helfen, die ursprünglichen Vorurteile zu überwinden. Dabei fliegen zwar verbal die Fetzen, doch der Clash der Kulturen zeitigt auch komische Momente, wozu auch die Chemie der beiden Hauptdarsteller beiträgt. Michel Blanc gibt den Paragrafenreiter als verschlossenen Mann, der Gefühle nicht an sich heranlassen will, auch wenn Verletzlichkeit und Gutmütigkeit regelmäßig durchscheinen. Louane Emera, die auch unter ihrem Sängerinnennamen Louane bekannt ist und einen Song zum Soundtrack beiträgt, spielt sehr überzeugend eine junge Frau, die in jedes Fettnäpfchen tritt, in der aber mehr steckt, als ihr ihre Umwelt zutraut.
Im Laufe des Films tragen der Code Civil, das französische Bürgerliche Gesetzbuch, ein dicker Blumenstrauß und eine DVD von „Jules und Jim“ dazu bei, dass die Figuren dazulernen und über ihre selbstpropagierten Opferrollen hinauswachsen. Manchmal ist das Drama knapp davor, ins Klischee abzugleiten. Doch letztlich fängt es sich immer wieder und erspart szenaristische Bequemlichkeiten wie unheilbare Krankheiten, Rückfälle in die Kriminalität oder Sonnenuntergänge.
Doch auch der Schauplatz des Films, die normannische Hafenstadt Le Havre, besitzt eine symbolische Funktion. Die Stadt hat ihre besten (Industrie-)Tage hinter sich und ist in vieler Hinsicht der Grund für das Leid der Hafenarbeiter oder für die eintönigen Jobs in der fischverarbeitenden Branche. Immer wieder schwenkt die Kamera mit Panoramaeinstellungen über die Stadt. An deren Ende wartet still das Meer. Manchmal funkelt es auch, so als wollte es die Protagonisten zu einer Reise ins Ungewisse locken.
Ein Denkmal für Michel Blanc
„Wie das Leben manchmal spielt“ setzt überdies dem großen französischen Schauspieler Michel Blanc (1952-2024) ein Denkmal. Es ist der letzte Film, der zu seinen Lebzeiten in Frankreich in die Kinos kam. Wenn der kleine untersetzte Mann mal vorwurfsvoll, dann genervt zu seiner Schauspielpartnerin Louane Emera hinaufschaut, sie von der Seite fassungslos beäugt oder mit den Tränen kämpft und ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken kann, spürt man, wie sehr er dem französischen Kino fehlen wird.
