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Filmkritik
Die Attribute „unsozial“, „unmoralisch“ oder „unüberlegt“ gelten in der Hausgemeinschaft des Phöbus-Hauses annähernd als Todsünden. Im Laufe des Film „Wir könnten genauso gut tot sein“ von Natalia Sinelnikova formen sie sich zu einem Refrain, dessen Bedeutung sich mit jeder Wiederholung so lange verschiebt, bis ihre größten Verfechter zur Verkörperung eben jener geschmähten Attribute werden. Unter Sozialität, Moral und Rationalität können Menschen unter bestimmten Umständen substanziell sehr Verschiedenes verstehen. Am Ende – Beispiele aus der Gegenwart gibt es genug – gebärden sich die allergrößten Spinner und Hetzer als letzte Verteidiger der Vernunft.
Das mit Stacheldraht abgeschottete Hochhaus am Waldrand ist ein begehrtes Refugium in einer gefahrvollen, nur in Andeutungen skizzierten Welt. Angst hat die Bewohner hinter den Zaun getrieben – die erste Szene zeigt eine mit Axt und Hammer bewaffnete Kleinfamilie im Wald – und bestimmt auch das tückische Bewerbungsverfahren. Ein Familienvater geht bei der Wohnungsbesichtigung bettelnd auf die Knie, andere kämpfen mit Bestechungsgeld und in Samt gebundenen Mappen um Bonuspunkte.
„Herr Richards schien verzweifelt“, merkt die Sicherheitsbeauftragte Anna bei der Hausversammlung an. Der Antrag der betreffenden Familie wird abgelehnt. Sie könnte ihre Emotionen nicht im Griff halten. „Don’t be afraid, within these walls, we’re safe“, singt eine Band beim jährlichen Konzert zum „St. Phöbus Tag“.
Schöne neue Welt hinter Mauern
Die Regisseurin, die in ihrer Kindheit mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland immigrierte, legt ihre gesellschaftliche Parabel in einer „Gated Community“ an, in der Wellness- und Achtsamkeitskultur, Sektenwahn, Eliteanstalt und soziales Projekt auf merkwürdige Weise zusammenfinden. Gesundheit und gesellschaftliches Engagement sind Voraussetzungen, um in die mit Topfpflanzen zwanghaft aufgehübschte Umgebung vorgelassen zu werden; sportliche und künstlerische Aktivitäten machen sich zumindest gut. Es gibt den Haus-Chor, in dem Annas Tochter Iris mit ihrer schönen Stimme glänzt, die Phöbus Boys, die Irish Dancers und die Kapelle des Friedens; auf den weitläufigen Grünflächen wird Golf angeboten. In dieser schönen neuen Welt soll niemand etwas zu befürchten haben.
Als Willie, der Hund des Hausmeisters, auf mysteriöse Weise verschwindet, verbreitet sich unter den Bewohner:innen eine irrationale Angst. Auch Anna gerät unter Druck. Iris, die sich für die Ereignisse verantwortlich fühlt und der Überzeugung ist, den bösen Blick zu haben, schließt sich im Badezimmer ein. Kommunikation und Körperkontakt zwischen Mutter und Tochter finden fortan nur durch ein schmales Lüftungsfenster statt, was bei bestimmten Handlungen – Umarmungen, Haare kämmen – zu surrealen Bildern voller Körperkomik führt. Überhaupt bewegt sich der Tonfall des Films zwischen skurrilem Humor und dem Suspense eines Psychothrillers.
Eine Bürgerwehr gegen das „Andere“
Anna wird beim nächtlichen Versuch, Willie zu finden, für eine Einbrecherin gehalten und driftet immer mehr ins soziale Abseits. Plötzlich gilt ihre migrantische Herkunft als das „Andere“, das die Mehrheitsgesellschaft bedroht. Eine Bürgerwehr formiert sich, die sich mit Golfschlägern bewaffnet. Ihre einzige Freundin, auch sie eine Fremde, sucht sich andere Verbündete. Als alle „Dazugezogenen“ ein erneutes Bewerbungsverfahren durchlaufen müssen, potenziert sich die Angst. Um sich und ihrer Tochter ein Bleiberecht zu sichern, liefert Anna dem Mob einen im Heizungskeller hausenden Poeten aus.
Die Struktur einer Versuchsanordnung und die (politische) Reinhaltungs- und Abschottungskultur, die „Wir könnten genauso gut tot sein“ im Mikrokosmos eines Hochhauses durchspielt, erinnern deutlich an die Filme von Yorgos Lanthimos und Lukas Valenta Rinner. Die Metaphorik des ambitionierten Abschlussfilms an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ist hingegen schlichter, ausbuchstabierter, das Drehbuch weniger raffiniert. Durch die Oberfläche einer kühlen Sozialdystopie und des grotesken Gebarens der immer feindseligeren Hausbewohner klingt gelegentlich ein empörter Ton durch. Dieser Film ist nicht das Ergebnis eines aus intellektueller Überlegenheit ausgetüftelten Konzepts; aus ihm spricht vielmehr gelebte Erfahrung – und ein humanistischer Appell.