









- Veröffentlichung16.10.2025
- RegieJulia Lemke, Anna Koch
- ProduktionDeutschland (2025)
- Dauer86 Minuten
- GenreDokumentation
- AltersfreigabeFSK 0
- Empfehlung der Jugendfilmjury7 -
Vorstellungen










Filmkritik
Abends unterwegs, vorbei an Wohnhäusern mit hell erleuchteten Fenstern, hinter denen vielleicht gerade Kinder spielen oder ihre Hausaufgaben machen. Jungs und Mädchen, die jeden Tag zur Schule gehen, immer dieselben Wege nehmen, die wissen, in welcher Straße sie wohnen. Bei Santino, der neben seinem Vater im Truck sitzt, ist das anders. Er zieht durchs Land, wechselt alle ein oder zwei Wochen die Schule, schließt Freundschaften und lässt sie hinter sich. Abends steht er in der Manege, wo er Leuchtstäbe und Süßigkeiten verkauft und die Vorfreude des Publikums oder das prickelnde Lampenfieber genießt. Santino ist ein Zirkuskind. Wo der Zirkus mit seiner Familie gerade gastiert, da ist Santino zu Hause.
Es gibt ihn also noch, den Zirkus, auch wenn die großen Zeiten, in denen seine Ankunft noch etwas ganz Besonderes war, lange vorbei sind. Raubtiernummern gehören nur noch selten zum Repertoire, doch noch immer erstaunen Akrobaten oder Jongleure die Zuschauer mit ihren Kunststücken und bringen Clowns die Leute zum Lachen bringen. Wer diese Menschen sind und was sie antreibt, davon erzählen Anna Koch und Julia Lemke in „Zirkuskind“, wobei sich der Dokumentarfilm in Ansprache und Erzählweise vor allem an ein junges Publikum richtet.
Tiere füttern, auf die Kleinen aufpassen
Ein Jahr lang begleitete das Regieduo den „Circus Arena“ auf seinen Reisen durch Deutschland und wählte Santino als Tourguide, der auch im Kino das Publikum mit in seine Welt und in seinen Alltag zwischen Wohnwagen, Schule und Zirkuszelt nimmt. Es ist eine Kindheit mit vielen Freiheiten, aber auch mit Aufgaben. Der Junge tummelt sich auf der Wiese, auf der sich der Zirkus niedergelassen hat, spielt mit seinem Bruder Verstecken und packt mit an: Tiere füttern, auf die ganz Kleinen aufpassen, beim Errichten des Zeltes helfen und während der Vorführung zur Hand gehen.
Jeder hat hier eine Aufgabe. Darum soll nun auch Santino mit seinen elf Jahren überlegen, wo seine Talente liegen, mit welcher Nummer er einmal in der Manege auftreten will. „Jeder in unserer Familie muss etwas tun, worauf man stolz ist“, sagt ihm sein „Opa Ehe“, der eigentlich sein Urgroßvater Frank Georg ist. Er hat den Circus Arena in den 1980er-Jahren gegründet und bezeichnet sich selbst als den ältesten Zirkusdirektor Deutschlands. Der alte Mann erscheint im Film wie eine wärmende Kraftquelle; immer wieder zieht es Santino zu dem 80-jährigen Mann hin, der ihm von den Wintertagen seiner Kindheit erzählt, die so kalt waren, dass er sich nachts zu den Tieren legte. Oder von dem berühmten Elefanten Sahib und wie er als Puppenspieler zeitweilig sesshaft wurde. Seine Geschichten werden – wohl auch aus Mangel an Archivmaterial – mit kinderleichten und zärtlichen Animationen illustriert, die aus der Hand von Magda Kreps und Lea Majeran stammen. Die Bildergeschichten verleihen den Anekdoten etwas Märchenhaftes. Zugleich aber vermitteln sie ein gelebtes Leben mit allen Höhen und Tiefen. Und so erzählt Opa Ehe seinem Urenkel auch davon, wie das NS-Regime Zirkusleute, reisende Menschen, Sinti und Roma verfolgt hat. Ein Teil seiner Familie wurde nach Ausschwitz deportiert. „Viele von uns sind dort geblieben. So was darf nicht vergessen werden.“
Das Kind und sein Urgroßvater
Mit diesem Wechsel der Perspektiven – die des Kindes und des Urgroßvaters – und den unterschiedlichen Formen des filmischen Erzählens – beobachtende Dokumentation und fantasievoller Zeichentrick – entwickelt „Zirkuskind“ eine packende Dynamik, die junge Zuschauer:innen knapp 90 Minuten lang angeregt unterhalten. Natürlich gibt es immer wieder viel aus dem Alltagsleben im Zirkus zu sehen: das Einstudieren der Nummern, das Auf- und Abbauen des Zeltes bei jedem Wetter, die vielen verschiedenen Tiere, die Show in der Manege, die nächtlichen Fahrten, die Momente der Ruhe.
Julia Lemke, die in „Zirkuskind“ auch die Kamera geführt hat, und Anna Koch nähern sich ihrem Sujet und ihren Protagonisten ähnlich neugierig wie zuvor auch schon in „Glitzer & Staub“ (2019) über Mädchen und junge Frauen, die im Mittleren Westen der USA Rodeos reiten und ihren Platz als Cowgirls in einer von Männern dominierten Welt suchen. Die Filmemacherinnen schauen hin, urteilen nicht und ordnen auch nichts durch einen erklärenden Kommentar ein, verweisen aber durchaus auf problematische Aspekte. Haben Santino und sein Bruder Giordano dieselben Chancen wie andere Kinder im gleichen Alter? Können sie Freundschaften außerhalb des Zirkus’ halten und pflegen? Mit welchen Vorbehalten und Anfeindungen begegnet man ihnen? Gerne hätte man mehr dazu erfahren.
Inmitten einer lebendigen Gemeinschaft
Doch „Zirkuskind“ will nicht problematisieren, sondern von einem Kind erzählen, das in einem gesellschaftlich wenig beachteten Umfeld aufwächst. Dort ist vieles gut; Santino und seine Zirkusfamilie werden augenscheinlich getragen vom Zusammenhalt, von Toleranz, Verantwortungsgefühl, Wertschätzung und der Liebe und Leidenschaft für das, was sie täglich tun. Für Santino zumindest ist es keine Frage, dass er und später auch seine Kinder ein Leben im und für den Zirkus führen werden. Womit er in der Manege einmal auftreten will, das jedoch weiß er auch am Ende des Films noch nicht so genau.
